Was für ein Filmabend! Ich bin mittelmäßig verstört, nachdem ich mir meine Fernreise längs durch die halbe Bundesrepublik mit einem Heimatstreifen versüßen wollte. Da es draußen schon dunkel ist, dachte ich, es könnte nicht schaden, statt aus dem Fenster auf bewegte Bilder auf dem Monitor zu schauen. Ich hatte vor der Abreise „Gernstls Reisen – Auf der Suche nach dem Glück“ erworben. Nichts wusste ich von diesem filmischen Werk und seinen Machern. Das ist für mich immer gut, dann bin ich zumeist weniger hinterher enttäuscht.
Der Film beschreibt eine 23 jährige Rundreise durch Deutschland und ist als Dokumentation konzipiert. Die ersten 15 Minuten sind die schonungsloseste und verstörendeste Berichterstattung über den Alltag in den frühen 80ern, die ich je gesehen habe. Hier wird alles gezeigt, Vorstadttristesse, Hammer-Dauerwellen und modebewußte Sannyasins.
Die Landbevölkerung bringt den Filmemacher an seine Grenzen. Minutenlanges Schweigen wird hier zur reaktionären Stimme einer ganzen Generation.
Die halböffentliche Ausstrahlung (ist Videogucken im Großraumwagen bereits eine GEMA-pflichtige Vorführung?) der Sequenz, in der die Frauengymnastik einer Dorfgemeinschaft begleitet wird, führte mich überraschend in die völlige Isolation. Mein Sitznachbar, ein Mitfünfziger mit schickem Anzug und Blackberry, wollte nicht länger diesen radikalen Bildern beiwohnen und setzte sich, trotz völlig überbuchtem ICE, irritiert weg. Ich hätte nie geglaubt, dass ich mit einem Heimatfilm diesen Erfolg haben könnte.
So verpasste der liebe Handelsreisende die aufschlussreiche Episode über die Aussteigerfamilie, die ausgerechnet in einer Einflugschneise ihr wildes Campinglager aufgebaut hatte.
Die dokumentierte Reisezeit in den damals noch jungen Osten der Republik, war kaum auszuhalten und hinterließ bei mir einen faden Beigeschmack. Hier wurde mit naiven und grenzdibilen Gestalten ein (hoffentlich) verzerrtes Bild einer ostdeutschen Bevölkerung gezeichnet, das nur schwer zu ertragen war. Erstaunt war ich, wie schnell ich ob der einzelnen Sonderlinge in den ca. 80 Minuten Filmmaterial abstumpfte und mich nicht mehr wundern konnte, als Interviewer Gernstl einen bayrischen Jesus ausfindig machte und danach einen Biobauern traf, der glaubhaft versicherte, dass er mit den Bakterien in seinem handgefertigten Käse stundenlange Gespräche führe.
Besondere Beachtung verdient das Bonusmaterial. Der Besuch beim Bürgermeister von Ulm, ist eine Sternstunde bewegter Bilder. Dieser Film geht als DAS Lehrvideo für Kommunalpoliker durch (mit Wiederwahlgarantie!)
Dieser Film hat das FSK-Prüfsiegel „ab 0 Jahre freigegeben“ erhalten. Mir ist nicht klar, wie die gezeigten gesellschaftlichen Irrungen harmloser eingestuft werden können, als die Texte des aktuellen Rammstein-Albums. Zensursula und ihre Bande sind mir hier einfach zu inkontinent.
Ein kleiner Zusammenschnitt des kommentierten Films: