…wenn sie jetzt noch Jesus Christus auf die Bühne bringen, denke ich bei mir, schon steht der nächste Heiland auf den Brettern, die das Messiasleben bedeuten. Jesus scheint unter diversen Pseudonymen aufzutreten. Alle im Saal erkennen ihn sofort, nur ich fall auf seine Tarnung als ehemals erfolgreicher Marketingleiter, früherer Spitzensportler, Schiedsrichter im Ruhestand oder Opernregisseur mit übersteigerten Sendungsbewusstsein herein. Meine Sonntagschulbildung versperrt mir den erlösenden Blick auf diese zeitgenössischen Propheten. Hier wird nicht Wasser zu Wein gewandelt, hier wird mit Multimedia und Tamtam die Seele umworben und individuelles Glück ausgelobt.
Nein, ich bin nicht auf einem Infotag von Scientology (wobei die sich hier sicher wohl fühlen würden), ich bin auf einer Grossveranstaltung für Motivation, Incentives und professionelle Anreizsysteme. Dieses Ereignis ist zunächst einmal eine Kombination von Dauervortragsbeschallung und begleitender Messe. Geworben wurde für dieses Ereignis sinnigerweise mit einer Möhre. Das ist hilfreich, macht es doch schon mal von Beginn an klar, wer der Esel bei dem Spiel ist.
Empfangen wurden die Heerscharen von Vertriebs- und Marketingzombies (die können unmöglich alle echt sein) und ich in der großen Halle mit lauter Musikbeschallung. Chorknabe Marky-Mark sang „I wanna see more happy people“ und ich stimmte innerlich zunächst „I will survive“ und dann „Das letzte Streichholz“ von Oomph! an.
Seit zwei Stunden bestaune ich nun Magier, die uns anhand eines roten Strick (gelungenes Heranführen an das Thema „Seil und Du“) erläutern, wie Kommunikation im Team oder zwischen Mann und Frau gelingen könne. Andere Redner erklären mir, dass meine, mit speziellen Übungen stimulierten, Wirbelzwischenräume mein Schlüssel zu mehr Leistung und ungeahnten Erfolgen seien. Die Schulungs-DVD gibt es heute statt für 149 EUR für sensationelle 98 EUR. Manch einer geht auf dieser Kaffeefahrt noch weiter und verkündet die einzig wirkungsvollen drei Schritte, um von den Mitmenschen geliebt zu werden. Das Auditorium hängt an seinen Lippen und manches weibliche Publikum quietscht erregt auf. Bevor ich meine bewährte Einschrittmethode zu verbindlicher Wut ungefragt demonstriere, verlasse ich den Ort des Geschehens.
Ich freue mich schon auf meinen nächsten Besuch in dieser Halle in vier Wochen, da spielen Rammstein hier auf. Das kostet mich dann 59 EUR, das Tagesticket für die heutige Wallfahrt gab es für Normalsterbliche zum Preis von 125 bis 299 EUR. Da hat der Veranstalter sich wohl eher an den traditionellen Preisen für Erlösung durch die katholische Kirche orientiert.
Auf der Rückfahrt bleibe ich mit dem Zug unterwegs hängen: „Streckensperrung zwischen Karlsruhe und Heidelberg, Notarzteinsatz im Gleis“. Es gibt noch viel Arbeit für Heilande.